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The Good and the Evil. Diskussionspapier der Roten Flora zu Antisemitismus

Dieser Text gibt unseren derzeitigen Diskussionsstand wieder – unsere Diskussion über Antisemitismus ist keineswegs abgeschlossen. Den Text öffentlich zu machen, verbinden wir mit der Hoffnung, dass er zur Kritik und zur Diskussion anregt und damit zu einer stärkeren inhaltlichen Auseinandersetzung mit Antisemitismus innerhalb der Linken beiträgt und auch unsere eigene Diskussion weiterbringt.

 
0.Ausgangspunkte

Vor allem seit den 70er und 80er Jahren wurden in der radikalen Linken auf Druck von Frauen und MigrantInnen Sexismus und Rassismus in der eigenen Szene thematisiert, was sich dann auf theoretischer Ebene im Tripple-Opression-Ansatz niederschlug. Dieser Ansatz besagt, stark zusammengefasst, dass sich Rassismus und Sexismus nicht einfach als bestimmte Ausdrucksformen einer kapitalistischen Gesellschaftsform verstehen lassen, die sich mit der Überwindung des Kapitalismus automatisch auch auflösen und somit als “Nebenwidersprüche” dem kapitalistischen “Hauptwiderspruch” gegenüber eine untergeordnete Rolle spielen. Stattdessen müssen Rassismus und Sexismus genauso wie Kapitalismus als zentrale gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse verstanden werden, die zwar miteinander verzahnt sind und sich teilweise gegenseitig bedingen, aber dabei trotzdem ihre eigenen, voneinander unabhängigen Mechanismen und Dynamiken besitzen, die auch immer wieder untereinander in Widerspruch geraten. Seit den 90er Jahren wird in Teilen der radikalen Linken Heteronormativität immer stärker als weitere grundlegende und teilweise unabhängige, Herrschaft konstituierende gesellschaftliche Struktur angesehen: Die heterosexuelle Matrix sorgt als gesellschaftliche Struktur dafür, dass alle Menschen eindeutig (und dabei teilweise gewaltsam) in eine der zwei Kategorien “männlich” und “weiblich” eingeordnet werden, wobei diese Kategorien derart mit allen möglichen Eigenschaften verknüpft werden, dass sich “männlich” und “weiblich” auf scheinbar natürliche Weise immer gegenseitig anziehen bzw. aufeinander angewiesen sind. Der damit verknüpfte “Zwang” zur Heterosexualität (der meist viel subtiler als über Gewalt wirkt) bringt nicht nur mit sich, dass nicht-heterosexuelle Formen von Sexualität als unnatürlich oder unnormal abgewertet werden. Er sichert gleichzeitig die Herrschaft von Männlichkeit ab, da in dieser sozialen Konstruktion (scheinbar zufälligerweise) die als männlich konstruierten Eigenschaften stets die jeweils gesellschaftlich höher bewerteten sind. Die heteronormative Struktur dieser auf Dichotomie (entgegensetzenden Zweiteilung) basierenden Form von Herrschaft findet sich in vielen anderen gesellschaftlichen Feldern wieder, z.B. in den Dichotomien Kultur/Natur oder politisch/privat.
Parallel zu dieser Sensibilisierung für Rassismus, Sexismus und (in Teilen der radikalen Linken) Heteronormativität, die jeweils zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit den Besonderheiten der jeweils damit verbundenen Mechanismen und Denkschemata führte, hat es in der radikalen Linken bis vor einigen Jahren kaum nennenswerte kollektive Auseinandersetzungen mit Antisemitismus – noch weniger mit dem in der eigenen Szene – gegeben. Auch bei uns hat zumindest eine gemeinsame Auseinandersetzung mit Antisemitismus erst in jüngster Zeit begonnen.

 
1.Bestandteile des Antisemitismus

Unserer Ansicht nach sind drei Bestandteile des Antisemitismus, die teilweise miteinander verwoben sind, für eine Auseinandersetzung innerhalb der deutschen Linken zentral:

1. Antisemitismus als kultureller Code

Zuerst muss gesehen werden, dass Antisemitismus in Europa als kultureller Code auf eine Jahrhunderte lange Kontinuität zurückgreifen kann: Die stereotypen Zuschreibungen über die angeblichen Eigenschaften und Verhaltensweisen von Jüdinnen und Juden haben sich zwar im Laufe der Zeit als einigermaßen wandelbar erwiesen, sie sind aber seit Jahrhunderten fester Bestandteil des christlich-abend­ländischen Denkens.
Während der Antijudaismus aus der christlichen Tradition entstammt und sich im Wesentlichen religiös begründet, z.B. über die angebliche Schuld “der Juden” am Tod Jesu, tritt das religiöse Moment im modernen Antisemitismus, der sich im frühen 19. Jahrhundert entwickelte, in den Hintergrund. Objekt des Hasses sind nun nicht mehr die einzelnen Jüdinnen und Juden und ihr angebliches konkretes Handeln wie Ritualmorde an Kindern, Hostienschändung usw. sondern abstrakter das Judentum, dem die Verantwortung für alle negativen Erscheinungen einer sich durch kapitalistische Industrialisierung rasch verändernden Welt gegeben wurde. Während für die Konstitution der deutschen Kultur antimoderne Einstellungen und eine diffuse Sehnsucht nach einer vorindustriellen Vergangenheit prägend waren, erschien das Judentum durch die Gleichsetzung mit einem ausbeuterischen Kapitalismus, dem Verfall vorindustrieller Produktionsweisen und sozialer Auflösung als Gegenteil zu allem, was als fester Bestandteil der deutschen Kultur bzw. des “Deutschtums” angesehen wurde. Das Judentum wurde mit sozialen Problemen aller Art verknüpft, bis eine Gleichsetzung herbei­halluziniert wurde, in der Judenfeindschaft zu einer Verbesserung der sozialen Realität führen sollte. Dabei erschienen Jüdinnen und Juden je nach Sprechort mal als proletarische, wurzel- und bindungslose Horde, mal als hinterlistig-berechnende Kaufleute und KapitalistInnen oder auch als zynisch-destruktive Intellektuelle. Hier zeigt sich bereits die Kompatibilität mit sowohl konservativen aber auch linken Ansätzen. Zusammen mit Militarismus, völkischem Nationalismus und Autoritarismus bildet Antisemitismus ein konstituierendes Element der deutschen Kultur ab dem 19. Jahrhundert.
Auch wenn Antisemitismus nach 1945 in Deutschland weniger offenen Ausdruck gefunden hat, da er in der Öffentlichkeit tabuisiert wurde, ist damit seine Kontinuität als kultureller Code nicht unterbrochen worden. Da eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus – insbesondere mit den ihm zugrunde liegenden Denkmustern und Mechanismen – nicht stattgefunden hat, konnte er unter der Oberfläche fortbestehen. Daran knüpft die Häufung von antisemitischen Äußerungen vor allem seit 1990 an. Da die Tabuisierung des Antisemitismus weitestgehend bis heute wirksam ist, artikuliert er sich heute allerdings oft auf neuen Wegen, z.B. wenn er sich nicht direkt gegen Jüdinnen und Juden richtet sondern gegen Israel als “illegitimen Staat” oder gegen Entschädigungs­zahlungen an ZwangsarbeiterInnen. Aufgrund der oben beschriebenen Bedeutung des Antisemitismus für die Konstruktion der deutschen Identität ist es nicht verwunderlich, dass er auch als Alltagswissen in die Sozialisation der Einzelnen mit einfließt. Wer in Deutschland aufgewachsen ist, wurde und wird in unterschiedlichem Maß und in unterschiedlicher Form in seinem Bild vom Judentum und von Jüdinnen und Juden durch diesen kulturellen Code mitgeprägt.

2. verkürzte Kapitalismus-Kritik

Einige der oben beschriebenen konkreten Stereotypen über das Judentum und Jüdinnen und Juden stehen in engem Zusammenhang mit einer verkürzten Kapitalismus-Kritik, die auf allgemeinen stereotypen gut-böse-Denkmustern basiert. Verkürzte Kapitalismus-Kritik gründet sich im Wesentlichen auf zwei falschen und gefährlichen Erklärungsmustern: Erstens wird der Herrschaft konstituierende Kern des Kapitalismus im (abstrakten) “Finanzkapital” gesehen, während (konkrete) kapitalistische Arbeit und Produktion unkritisiert bleiben bzw. positiv verklärt werden. Diese unterschiedliche Bewertung von “schaffendem und raffendem Kapital” (wie dies in der NS-Ideologie ausgedrückt wurde) ist vor allem deshalb falsch, weil kapitalistische Ökonomie auf dem Zusammenspiel von kapitalistischer Zirkulation und kapitalistischer Produktion basiert und insofern (Lohn-) Arbeit und “Produktionskapital” genauso Teil des Problems sind wie “das Finanzkapital”. Das zweite Erklärungsmuster versteht Kapitalismus vereinfachend als konkrete Form von Herrschaft einer relativ kleinen Gruppe von bösartigen (und nicht arbeitenden) Menschen – den vermeintlichen VertreterInnen des Kapitals – über “das arbeitende Volk”. In dieser Personalisierung wird das relativ komplexe gesellschaftliche Verhältnis, das der Kapitalismus darstellt, heruntergebrochen auf ein einfaches gut-böse-Bild von den bösen UnterdrückerInnen “da oben” und dem guten unterdrückten “Volk”. Dieses vereinfachende personalisierende Erklärungsmuster greift vor allem deshalb zu kurz, weil es nicht erklären kann, warum “das arbeitende Volk” bei dem ganzen Spiel so unnachgiebig mitspielen will.
Gefährlich werden diese beiden verkürzenden Erklärungsmuster in ihrem Zusammenspiel. Denn dann ergibt sich, dass es im Kapitalismus immer eine kleine Gruppe von Menschen geben muss, die Schuld ist an allem Übel, das die kapitalistische Ökonomie so hervorbringt; nämlich gerade diejenigen, die als VertreterInnen des “Finanzkapitals” identifiziert werden und deren Prototyp “der Spekulant” ist. Welcher Gruppe von Menschen – die meist als außerhalb des “Volkes” stehend konstruiert wird – nun in scheinbar antikapitalistischer Motivation diese Rolle der Schuldigen zugesprochen wird, hängt vom historisch-kulturellen Zusammenhang ab. Vor dem Hintergrund, dass die Gleichsetzung des Judentums mit dem “Finanzkapital” seit Jahrhunderten fest im abendländischen Denken verankert ist, bietet diese verkürzte Kapitalismus-Kritik stets das Angebot, das Judentum für die Auswirkungen der kapitalistischen Gesellschaftsform verantwortlich zu machen. In diesem Sinne kann gesagt werden, dass eine solche verkürzte Kapitalismus-Kritik immer eine offene Flanke zum Antisemitismus hat, da es in dieser Form der Welt-Erklärung stets eine Gruppe vom Menschen geben muss, die gerade diejenigen Eigenschaften besitzen, die “den Juden” seit Jahrhunderten nachgesagt wurden: Nämlich die sog. “Spekulanten” zu sein, die “das Volk” “auf hinterlistige Weise ökonomisch aussaugen” und dadurch “die ganze Welt beherrschen”.

3. das Motiv der Schuldabwehr

Genaugenommen lässt sich weder die Kontinuität des Antisemitismus als kultureller Code noch die Bereitschaft verkürzte Kapitalismuskritik zu vertreten, tiefergehend verstehen, ohne auf die Funktion, die antisemitische Denkmuster in der Psyche einnehmen, einzugehen. Spätestens aber wenn versucht wird, die neuen Formen, die der Antisemitismus in Deutschland nach 1945 angenommen hat, zu begreifen, ist ein Bezug auf psychische Funktionen unumgänglich.
Auf psychischer Ebene ist in Deutschland nach ?45 das Verhältnis zum Judentum, zu jüdischen Symbolen und zum Staat Israel gekennzeichnet von Schuldabwehr: Die deutsche Gesellschaft setzt sich zum größten Teil aus direkten gesellschaftlichen NachfahrInnen des TäterInnenkollektivs zusammen, das für die Shoah verantwortlich ist. Dabei sind hier verschiedene Strategien zu beobachten, um die eigenen (oft unbewussten) Schuldgefühle loszuwerden. Eine zentrale Rolle spielt dabei das Mittel der Projektion, das sich heute meistens auf den Staat Israel und seine RepräsentantInnen, aber auch Deutsche jüdischen Glaubens richtet. Wenn beispielsweise Sharon als Faschist oder Israel als faschistischer Staat bezeichnet werden, dann zeigt sich darin nicht nur ein verkürzter Begriff von Faschismus, sondern oft auch der Wunsch, denjenigen, gegenüber denen (oft unbewusst) Schuld empfunden wird, nachzuweisen, dass sie sich selbst der gleichen Sache schuldig gemacht haben – bzw. manchmal sogar, dass sie selbst die eigentlich Schuldigen sind. (Eine der bekanntesten antisemitischen Argumentations-Figuren funktioniert so, dass “die Juden” selbst es sind, die durch ihr Verhalten den antisemitischen Hass hervorrufen, wodurch dieser Hass nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar als adäquate Reaktion dargestellt wird.)
Gerade diese Art der Projektion der eigenen Schuldgefühle spielt in den meisten Fällen mit hinein, wenn Deutsche – d.h. gesellschaftliche NachfahrInnen des TäterInnenkollektivs – das Existenzrecht eines jüdischen Staates infrage stellen: Dass ausgerechnet die Existenz des Staates Israel derart vehement zur Zielscheibe der Kritik gemacht wird, während kaum jemals das Existenzrecht anderer Staaten thematisiert wird, zeigt das Bedürfnis von vielen Deutschen, “den Juden” nachzuweisen, dass diese selbst nicht nur Opfer, sondern ebenso TäterInnen sind wie die eigenen Eltern und Großeltern.
Im deutschen Mainstream taucht Schuldabwehr aktuell immer wieder auf, wenn die deutsche Vergangenheit dem Wunsch im Wege steht, Deutschland endlich wieder in dem Kreis derjenigen Staaten zu etablieren, die ihre Interessen auch außerhalb der eigenen staatlichen Grenzen militärisch durchsetzen können. Die neue deutsche Großmachtpolitik ruft die deutsche Vergangenheit immer wieder auf, so dass das neue nationale Selbstbewusstsein mit verstärkter Schuldabwehr und Projektion dieser Vergangenheit einhergeht. So zum Beispiel wenn von Deutschen im jugoslawischen Bürgerkrieg “Konzentrationslager” ausgemacht werden, um dann zur Legitimation eines Angriffskrieges von deutschem Boden benutzt zu werden. Durch Rot-Grün wurde hierzu ein zusätzliches argumentatives Instrument entwickelt, das sich eine konservative Regierung wohl nie zu formulieren getraut hätte: Gerade Deutschland muss aufgrund seiner eigenen Geschichte überall dort, wo auf der Welt Unrecht geschieht, intervenieren. Auschwitz wird damit zur unmittelbaren Begründung neuer deutscher Großmachtpolitik und somit quasi zum ungeahnten positiven Standortfaktor. Parallel dazu diente z.B. die Wehrmachtsausstellung – ob von den MacherInnen beabsichtigt oder nicht – unter anderem dazu, nach dem Durchgang durch die Katharsis mittels des “Dialogs der Generationen” eine positive deutsche Identität wiederherzustellen.

Schuldabwehr und Erinnerungspolitik
Die Konstruktion einer positiven deutschen Identität führt heute zwei erinnerungspolitische Strategien zusammen, die sich – bezogen auf den Umgang mit der Shoah in der alten BRD – lange kontrovers gegenüberstanden.
Auf der einen Seite stand die seit 1945 geübte Leugnung der gesamtgesellschaftlichen TäterInnenschaft bzw. Verantwortung für die Shoah in Deutschland und die Leugnung der Kontinuitäten der Eliten des NS-Staates zu den politisch-gesellschaftlichen Eliten der neu gegründeten Bundesrepublik nach 1949. Einer der letzten Versuche innerhalb dieser Strategie zeigte sich in einer der beiden Positionen im sog. Historikerstreit Ende der 80er Jahre, als unter anderem die russische Revolution zum eigentlichen Verbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts erklärt wurde und die Behauptung aufgestellt wurde, dass die national­sozialistischen Verbrechen lediglich eine radikale Reaktion auf eine “ursprünglichere bolschewistische Bedrohung” gewesen seien.
Diesen revisionistischen Leugnungs-Strategien stand mit der Entstehung der neuen Linken nach 1967/68 eine Position gegenüber, die zunächst offensiv für die Auseinandersetzung mit der Shoah und den Kontinuitäten zwischen NS-Staat und der Bundesrepublik stand. Allerdings drückte sich dies nur selten in einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit antisemitischen Denkmustern und Weltbildern aus, sondern blieb meistens auf der wenn auch wichtigen so doch oberflächlichen Ebene des Angriffs auf Autoritäten mit NS-Vergangenheit hängen. Mit der zunehmenden Integration und Vereinnahmung der 68er-Bewegung in die etablierten politischen Strukturen hat dann eine Annäherung zwischen diesen zunächst gegensätzlichen Positionen stattgefunden. Die als (Schuld-)Last empfundene Auseinandersetzung verbindet sich mit der Abwehr einer wirklichen Annahme von historischer Verantwortung: In der reaktionären Variante ist es die angeblich verschwindend kleine Clique von Verbrechern um Hitler, mit denen die überwältigende Mehrheit der anständigen Deutschen nichts zu tun hatte. In der linken Version sind es die in der Kontinuität eines historischen antifaschistischen Widerstandes stehenden fortschrittlichen Kräfte, die ebenfalls nichts mit den TäterInnen der Shoah zu tun hatten.
Beide Haltungen finden sich dann in einem Konzept der Wehrmachtsausstellung wieder, in dem tatsächlich “die Täter verschwinden” und es nur noch Opfer gibt. Und in diesem Zusammenhang ist das Holocaust-Denkmal in Berlin eher ein Ort der Erinnerungsvermeidung und dient der Inszenierung einer Verleugnungs-Kultur, die sich sentimental an die Opfer der Shoah “erinnert”, aber jede Auseinandersetzung um die geschichtliche Verantwortung vergisst. Und es ist sicherlich kein Zufall, dass es innerhalb der radikalen Linken kaum eine Diskussion um eigene Vorstellungen über eine angemessene Erinnerungspolitik gegeben hat. Damit steht übrigens nicht die Arbeit derjenigen infrage, die sich z.B. um die Schaffung und den Erhalt von Gedenkstätten kümmern, Studienfahrten organisieren usw. – entscheidender ist vielmehr, dass radikale linke Positionen in der Berliner Mahnmal-Auseinandersetzung, der Walser-Bubis-Debatte oder in bezug auf die Durchsetzung totalitärer Erinnerungskonzepte (“die beiden deutschen Diktaturen…”) nahezu völlig fehlen. Polemisch zugespitzt erscheint es oftmals, als wenn eben auch die radikale Linke oft nichts mehr mit der deutschen Vergangenheit zu tun haben möchte.

 
2.Antisemitismus in der deutschen Linken

Möglicherweise ist das Motiv der Schuldabwehr innerhalb der deutschen Linken weniger stark vorhanden als in der deutschen Gesellschaft insgesamt. Allerdings taucht Schuldabwehr immer wieder auf, wenn in der Linken der Israel/Palästina-Konflikt verhandelt wird: Nach dem Versagen der deutschen Linken im NS nun die PalästinenserInnen als “Opfer der Opfer” zu unterstützen heißt nicht, ganz besonders antifaschistisch zu sein und damit quasi den Widerstand für die eigenen Großeltern nachzuholen. Diese Logik kann nur funktionieren, wenn Analogien zwischen israelischer Politik und deutscher Judenvernichtung konstruiert werden. Und wenn solche Analogien von Deutschen gezogen werden, ist es wahrscheinlich, dass sie dazu dienen, eigene Schuldgefühle abzuwehren. Aber auch wenn Deutsche eine unkritische und absolute Identifizierung mit der israelischen Staatspolitik und dem israelischen Militär praktizieren, dient dies wahrscheinlich der eigenen Schuldabwehr. Denn dabei setzen sich NachfahrInnen des TäterInnenkollektivs in die Position, für die Opfer der Shoah sprechen zu können oder identifizieren sich sogar mit ihnen, z.B. wenn sie sich selbst als Opfer von Antisemitismus begreifen. Dies alles sind Versuche, sich selbst als nachgeborene Deutsche oder nachgeborener Deutscher aus der gesellschaftlichen Kontinuität des TäterInnenkollektivs herauszudefinieren. Von der radikalen Linken wäre statt Schuldabwehr eine Aufarbeitung deutscher Vergangenheit zu erwarten – nicht mit dem Ziel, dann endlich wieder eine positive eigene (deutsche) Identität zurück zu bekommen, sondern mit dem Ziel, die Bedingungen, die Auschwitz möglich gemacht haben, genauso auf den Müllhaufen der Geschichte zu befördern wie Deutschland und die deutsche Identität.
Während sich in den letzten 20 Jahren in Bezug auf Rassismus und Sexismus innerhalb der radikalen Linken zumindest auf theoretischer Ebene die Position durchgesetzt hat, dass Linke nicht per Definition außerhalb der Gesellschaft stehen und deshalb gar nicht rassistisch oder sexistisch sein können, scheint diese Einsicht von vielen nicht auf Antisemitismus übertragen zu werden. Abgesehen davon zeigt sich, dass Antisemitismus als kultureller Code auch an Linken nicht spurlos vorbeizieht. Da eine kollektive Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Linken bisher kaum stattgefunden hat, ist es nicht sehr verwunderlich, dass antisemitische Stereotype auch hier immer wieder auftauchen, z.B. wenn der Staat Israel als “Brückenkopf des US-Imperialismus” bezeichnet wird. Die Beteuerung “Ich bin Linker und kann deshalb gar nicht antisemitisch sein.” ist insofern Ausdruck von genauso viel Ignoranz und eindimensionalem Denken wie die Behauptung, als Linke oder Linker könne mensch gar nicht sexistisch oder rassistisch sein. Stattdessen muss innerhalb der Linken eine Reflexion über die eigenen stereotypen Denkmuster über Jüdinnen und Juden, das Judentum und Israel und deren Funktion für das eigene Selbstverständnis stattfinden. Eine solche Reflexion sollte dazu führen, dass diese stereotypen Denkmuster in Zukunft klarer erkannt werden, wenn sie innerhalb der eigenen Szene, aber auch sonst, Ausdruck finden und dass ihnen entschiedener entgegengetreten wird.
Während das Vorkommen von konkreten antisemitischen Stereotypen innerhalb der deutschen Linken sicherlich nicht stärker verbreitet ist als im gesellschaftlichen Mainstream, ist verkürzte Kapitalismus-Kritik (die zwar nicht per se antisemitisch ist, aber reichlich Anknüpfungspunkte zum Antisemitismus bietet) heute vor allem in der Linken besonders stark verbreitet. Immer wieder zeigt sich der Wunsch, die kapitalistische Welt unter der Schablone von Gut und Böse zu sehen und kapitalistische Herrschaft, die sich tatsächlich mittels der Kapitallogik durch alle einzelnen Individuen hindurch konstituiert, in einer bestimmten Gruppe von Menschen zu personalisieren. Wenn beispielsweise statt der Abschaffung des Kapitalismus eine Tobin-Steuer für das Finanz-Kapital gefordert wird, dann zeigt sich darin fast in Reinform eines der beiden zentralen Denkmuster verkürzter Kapitalismus-Kritik. Eine der zentralen Aufgaben der Linken sehen wir deshalb aktuell darin, gerade innerhalb der eigenen Szene den Zusammenhang von verkürzter Kapitalismus-Kritik und Antisemitismus immer wieder deutlich zu machen und solchen vereinfachenden Erklärungsmustern mit aller Entschlossenheit entgegenzuwirken.

 
3.Antisemitismus und Rassismus

Auch dann, wenn innerhalb der radikalen Linken keine antisemitischen Stereotypen Ausdruck finden, verkürzte Kapitalismus-Kritik vertreten oder deutsche Vergangenheit auf Israel projiziert wird, wird Antisemitismus oft nicht als ernsthaftes Problem wahrgenommen: entweder indem Antisemitismus als eine bestimmte Form von Rassismus verstanden wird, die dann per Definition durch die vorhandene Antira-Arbeit bereits genügend thematisiert ist, oder indem Antisemitismus als eine Art Nebenwiderspruch verstanden wird, der sich mit der Überwindung des Kapitalismus sowieso auflöst bzw. mit dem sich dann immer noch auseinandergesetzt werden kann: Es gibt schließlich wichtigeres…
Unserer Meinung nach ist es wichtig, Rassismus und Antisemitismus zu unterscheiden, da die Struktur des Antisemitismus einige Besonderheiten aufweist, die im Rassismus nicht zu finden sind: Erstens wird nur das Judentum immer wieder hartnäckig mit dem Kapital in Verbindung gebracht, so dass verkürzte Kapitalismuskritik nur zum Antisemitismus, wie oben erläutert, immer eine offene Flanke hat. Zweitens spielen nur im Antisemitismus Verschwörungstheorien und Ohnmachts-Phantasien eine derart zentrale Rolle: Nur das Judentum wurde und wird immer wieder alleine für alle möglichen negativen gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen verantwortlich gemacht. Die besondere, unglaubliche Macht des Judentums, die dabei unterstellt werden muss, wird üblicherweise mit ihrem angeblichen – durch Wucher und Kapitalgeschäfte geschöpften – Reichtum, ihrer angeblichen Kontrolle über die Medien und ihrer angeblich verschwörerischen Tätigkeit erklärt. Drittens wurde und wird nur dem Judentum so vehement unterstellt, unsichtbar aus der Mitte der Gesellschaft heraus destruktiv die “Volksgemeinschaft” zersetzend zu wirken.
Ein wesentliches Moment der antisemitischen Weltsicht besteht also darin, dass das Judentum immer als faktisch überlegen konstruiert wird. Im Rassismus findet sich dieses Moment zwar auch ab und an, allerdings nie in solch zentraler Stellung. Antisemitismus zielt dementsprechend im Kern nicht wie Rassismus auf die Unterwerfung einer bestimmten Gruppe ab, sondern auf die Befreiung von einer wahnhaft halluzinierten Herrschaft. Während das Ziel des Rassismus praktisch realisierbar ist und in der Realisierung tendenziell seine Befriedigung findet, kann das Ziel des Antisemitismus – sich von einer nicht realen, imaginierten Herrschaft zu befreien – nie erreicht werden. Der Antisemitismus ist insofern durch die zentrale Rolle des Wahnhaften absolut maßlos. Antisemitismus und Rassismus nicht zu unterscheiden, ignoriert darüber hinaus die Singularität der Shoah; Antisemitismus kann heute nicht ohne Einbeziehung der Shoah begriffen werden.

Rassismus-Begriff
Möglicherweise zeigt sich hier ein Problem für einen weiten Rassismus-Begriff, der heute in der Rassismus-Theorie verstärkt verwendet wird, vor allem um auch positiven Rassismus (“Schwarze haben einfach mehr Rhythmus-Gefühl”) und Kulturalismus (“Araber denken aufgrund der Geschichte ihrer Kultur einfach nicht so demokratisch wie Europäer”) als Formen des Rassismus fassen zu können. Denn wenn laut diesem weiten Rassismus-Begriff Rassismus nicht erst da anfängt, wo eine zuvor konstruierte “Rasse” oder “Kultur” abgewertet wird, sondern bereits dort, wo die Konstruktion einer festen, abgrenzbaren, biologischen oder kulturellen Identität betrieben wird, die die einzelnen Subjekte auf diese Identität fixiert, dann ergibt sich daraus, dass Antisemitismus als eine (wenn auch besondere) Form des Rassismus verstanden werden müsste.

Wenn es einerseits richtig ist, Antisemitismus von Rassismus zu unterscheiden, dann ist andererseits nicht zu sehen, warum Antisemitismus eine weniger zentrale Rolle in linksradikaler Theorie und Praxis einnehmen sollte als die sog. “Hauptwidersprüche” – vor allem wenn beachtet wird, dass der Antisemitismus im NS das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte überhaupt hervorgebracht hat. In der Konsequenz muss das heißen, der Auseinandersetzung mit und dem Kampf gegen Antisemitismus deutlich mehr Raum einzuräumen als bisher. Was es sicher nicht heißt, ist nun in Wendehals-Manier Antisemitismus zu dem einen neuen Hauptwiderspruch zu machen und damit die alte verkürzte Theorie und Praxis gegen eine neue – nur mit umgekehrten Scheuklappen – auszutauschen.

 
4.Israel als Konsequenz aus der Shoah und als Nationalstaat

Stattdessen muss Antisemitismus in seinen Verschränkungen mit verschiedenen Formen von Herrschaft und in seinen Widersprüchlichkeiten dazu erkannt werden. Und genau diese Widersprüchlichkeiten werden in der aktuellen Diskussion um Antisemitismus allzu oft – teilweise bewusst – eingeebnet. So halten wir es beispielsweise nach wie vor für richtig, Nationalstaaten als Gewaltverhältnisse und mit Bezug auf die Funktionen, die sie für die Aufrechterhaltung von kapitalistischer Ökonomie und rassistischen Herrschaftsverhältnissen, aber auch von Sexismus, Heteronormativität und Antisemitismus haben, allgemein abzulehnen. Gleichzeitig ist der Staat Israel nicht irgendein Staat. Unabhängig von der Kritik, die mensch an Israel haben kann, weil es als Staat eben doch genauso funktioniert wie alle anderen Staaten und dementsprechend gerade zu Zeiten einer militärischen Auseinandersetzung die gleiche Form von Gewaltverhältnis darstellt, muss dabei beachtet werden, dass die zentrale Motivation für die Gründung Israels eine andere als bei allen anderen Staaten war: Nachdem der von NS-Deutschland begangene – in der Geschichte singuläre und unvergleichbare – Versuch der totalen Vernichtung des europäischen Judentums fast vollständig umgesetzt wurde und die Jüdinnen und Juden vom größten Teil der Welt nicht davor geschützt wurden, wurde die bereits seit dem 19. Jahrhundert von Jüdinnen und Juden gestellte Forderung nach einem eigenen Staat als “sichere Heimstatt”, die sie vor staatlichem und gesellschaftlichem Antisemitismus schützen sollte, von den Vereinten Nationen anerkannt. Solange Antisemitismus ein weltweites Phänomen ist und damit eine der zentralen Bedingungen, die die Shoah möglich gemacht haben, weiterhin wirksam ist, kann die Existenz des Staates Israel nicht infrage gestellt werden. Und so lange gebührt Israel in dieser Funktion eine Solidarität, die keinem anderen Staat gebührt.
Über Anti-Zionismus als jüdische Position gegen einen eigenen Staat gab es vor 1933 eine kontroverse inner-jüdische Diskussion. Mit der Shoah ist diese Position durch die Geschichte so stark infrage gestellt worden, dass sie selbst in der israelischen Linken bei aller Kritik an der eigenen Regierung äußerst marginalisiert ist. Für deutsche Linke stellt Anti-Zionismus keine Position dar, die diskutiert oder gar vertreten werden kann. Wenn darin gesellschaftliche NachfahrInnen des TäterInnen-Kollektivs den Staat Israel als Konsequenz der Shoah infrage stellen, dann bagatellisiert dies die deutsche Geschichte und betreibt damit eine Relativierung der Shoah. Ein deutscher Anti-Zionismus ist zwar wahrscheinlich nicht immer durch Schuldabwehr motiviert. Oft liegt hier sicherlich auch der Wunsch zugrunde, den Israel/Palästina-Konflikt vereinfachend als Auseinandersetzung zwischen “herrschendem Regime” und “unterdrücktem Volk” zu sehen, um sich dann mit dem “kämpfenden Volk” identifizieren zu können. Doch unabhängig von der Motivation dienen in Deutschland öffentlich geäußerte anti-zionistische Positionen in jedem Fall der Schuldabwehr der deutschen Gesellschaft. Abgesehen davon werden anti-zionistische Positionen heute oft bewusst als gesellschafts- und oft szene-fähige Chiffre für antisemitische Inhalte verwendet – in jedem Fall muss klar sein, dass sie von einem Großteil der Bevölkerung immer als solche verstanden werden.
Für uns ergibt sich daraus, dass jeder Infragestellung des Existenzrechtes Israels – selbstverständlich auch innerhalb der eigenen Szene – entschieden entgegengetreten werden muss. Das bedeutet nicht umgekehrt die vollkommen unkritische und bedingungslose Unterstützung der israelischen Staatspolitik und des israelischen Militärs, zumal dies, wie in Teil 2 bereits erläutert, nur auf andere Weise der deutschen Schuldabwehr dient. Eine Kritik an der Politik des Staates Israel muss im Bewusstsein für die Besonderheit dieses Staates formuliert werden und muss speziell in Deutschland immer reflektieren, inwieweit sie der Wiederherstellung einer positiven deutschen Identität dient, und inwieweit sie durch Schuldabwehr mitbestimmt ist bzw. davon vereinnahmt werden kann.

 
5.Der Streit um die Fahne

Die offensichtlich nicht auflösbare Widersprüchlichkeit zwischen einer – vor allem antikapitalistischen und antirassistischen – Kritik an Nationalstaaten im allgemeinen und der – sich historisch aus der Shoah herleitenden – Notwendigkeit eines israelischen Staates zeigt sich aktuell im Streit um das Tragen von Israel-Fahnen auf Demos der deutschen Linken: Entsprechend Israels Funktion als Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden hat die israelische Fahne als Symbol eine besondere Bedeutung, die keiner Fahne irgend eines anderen Staates zukommt. Gleichzeitig symbolisiert diese Fahne auch einen gewaltförmig organisierten Nationalstaat – wie alle anderen National-Flaggen auch. Ob Israel-Fahnen auf einer linken Demo oder Veranstaltung politisch Sinn machen, hängt unserer Meinung nach davon ab, ob im jeweiligen Kontext ihre Bedeutung als Symbol für einen Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden eindeutig im Vordergrund steht. Bei Anlässen, bei denen regelmäßig gefordert wird, den Staat Israel aufzulösen und “die Juden ins Meer zu treiben”, z.B. am Al Quods-Tag oder auch bei einer Nazi-Demo, kann es durchaus sinnvoll sein, diesen Forderungen mit israelischen Fahnen entgegenzutreten. Auch kann auf einer Antifa-Demo zu den Verbrechen, die die Wehrmacht vor allem auch an Jüdinnen und Juden begangen hat, eine israelische Fahne durchaus Sinn machen.
Aus zwei Gründen werden wir selbst jedoch keine Israel-Fahnen verwenden:
1. Auch in Kontexten, in denen die Bedeutung der Israel-Fahne als Symbol für einen Zufluchtsort für Jüdinnen und Juden im Vordergrund steht, lässt sich die Fahne nicht auf diese Bedeutung reduzieren – sie bleibt trotz allem immer auch eine Nationalfahne. Hier sehen wir die Gefahr, unter dem Wunsch einer klaren und eindeutigen Positionierung die genannten Widersprüchlichkeiten derart “aufzulösen”, dass eine linksradikale Kritik an Staat und Nation einfach ausgeblendet wird. Wichtig ist dabei für uns, dass das Zeigen der Israel-Fahne nicht die einzige Möglichkeit ist, die Anerkennung Israels als Konsequenz aus der Shoah öffentlich deutlich zu machen.
2. Abgesehen davon ist im Kontext der linken Szene die israelische Fahne mittlerweile mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen. Während es auf der einen Seite erschreckend ist, dass von vielen Linken gerade Israel-Fahnen auf den eigenen Demos per se als Provokation aufgefasst werden, ist es gleichzeitig inakzeptabel, wie Israel-Fahnen in den letzten Jahren immer wieder bewusst zur Provokation innerhalb der Szene instrumentalisiert wurden. Dies widerspricht sich leider nicht: Wenn beispielsweise versucht wird, sich mit Israel-Fahnen in die ersten Reihen einer Demo gegen Sozialabbau zu drängen, dann dienen die Fahnen nicht mehr dazu, eine bestimmte (möglicherweise marginalisierte) Position zum Thema der Demo in die Öffentlichkeit zu tragen. Hier wird ganz offensichtlich versucht, die israelische Fahne dafür zu funktionalisieren, eine Position bzw. eine Identität innerhalb einer Szene-Auseinandersetzung im Kontext der Demo möglichst machtvoll zu repräsentieren. Durch die direkte Identifizierung mit dem Staat Israel und die indirekte mit den Jüdinnen und Juden wird dabei zusätzlich versucht, eine vollkommene moralische Unangreifbarkeit herzustellen. Dabei wird ein inner-deutscher Konflikt auf dem Rücken eines Symbols ausgetragen, das (auch) für die Konsequenzen deutscher Geschichte steht, was diesem Symbol ganz sicher nicht gerecht wird. Durch diesen inflationären und teilweise offensichtlich bewusst provokativen Gebrauch von Israel-Fahnen werden diese als Identifikationssymbol von einer bestimmten Strömung der deutschen Linken vereinnahmt.
Die Widersprüchlichkeit zwischen der Notwendigkeit einer Kritik an Staat und Nation auf der einen Seite und der Notwendigkeit eines israelischen Nationalstaates auf der anderen ist für uns der Hauptgrund dafür, selbst keine Israel-Fahnen zu tragen. Umgekehrt ist es gerade aufgrund dieser Widersprüchlichkeit vollkommen inakzeptabel, wenn israelische Fahnen angegriffen werden. Denn ein Angriff auf die Fahne Israels ist eben nicht nur ein Angriff auf ein nationalstaatliches Symbol, sondern immer auch ein Angriff auf ein Symbol für die Konsequenz aus der Shoah. Die hier thematisierte Widersprüchlichkeit muss als Bestandteil linker Politik gesehen werden, über den innerhalb der Linken eine inhaltliche Auseinandersetzung stattfinden muss. Versuche, Menschen aufgrund ihres Tragens von Israel-Fahnen aus linken Zusammenhängen oder Räumen auszuschließen oder sie sogar gewalttätig anzugreifen, lehnen wir entschieden ab.

 
6.Spaltung oder Auseinandersetzung

Was der aktuelle Konflikt braucht, sind nicht identitätsstiftende Symbole, anhand derer antisemitische von nicht-antisemitischen Linken unterschieden werden können, sondern eine ernsthafte Auseinandersetzung über Antisemitismus innerhalb der Linken. Wir machen uns keine Illusionen darüber, dass bestimmte Teile der Linken diese Auseinandersetzung weiterhin konsequent verweigern werden, um weiter an ihrem gut-böse-Weltbild festhalten zu können, in dem es nur Herrschende/KapitalistInnen und ein unterdrücktes Volk gibt. Wenn sich dieses Weltbild in antisemitischen Formen konkretisiert, indem zum Beispiel der Nah-Ost-Konflikt als Auseinandersetzung zwischen einem faschistischen Staat Israel und dem revolutionären palästinensischen “Volk” verstanden wird, dann sehen wir keine Basis für eine weitere politische Zusam­menarbeit gegeben. Umgekehrt sehen wir auch keine Grundlage für eine gemeinsame politische Praxis mit denjenigen Linken, in deren eindimensionaler Weltsicht Antisemitismus so sehr zu dem einen Hauptwider­spruch geworden ist, dass sie immer öfter keine Probleme mehr damit haben, zum Beispiel rassistische und sexistische Inhalte zu vertreten. Auch hier machen wir uns keine Illusionen darüber, dass diese Fraktion so sehr in ihrem gut-böse-Weltbild aufgegangen ist, in dem es außer ihnen selbst nur Antisemiten bzw. außer einer bedingungslosen Solidarität mit der israelischen Politik nur antisemitischen Israelhass gibt, dass von ihnen keine Auseinandersetzung mit dem eigenen Rassismus und Sexismus zu erwarten ist.
Die aktuelle Tendenz in Teilen der Linken, in Konflikten über Antisemitismus sowie Israel/Palästina die jeweils andere Seite nicht mehr als Linke zu betrachten (oder Linkssein per se als antisemitisch zu betrachten und sich selbst nicht mehr dazuzuzählen), dient meistens vor allem dazu, eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung zu umgehen. Nicht selten dient sie auch der Legitimation für das Übertreten von Mindeststandards für eine innerlinke Auseinandersetzung (wie z.B. dass solche Auseinandersetzungen nicht mit körperlicher Gewalt geführt werden).
Die sich momentan verschärfende Praxis, Menschen pauschal allein aufgrund ihrer Teilnahme an bestimmten Demos oder Veranstaltungen körperlich anzugreifen, aus linken Zusammenhängen auszuschließen, oder mit dieser Begründung Hausverbote für irgendwelche Orte zu verhängen, halten wir für absolut inakzeptabel. Wer sich eindeutig antisemitisch, rassistisch, sexistisch oder homophob äußert und dies auf Nachfrage hin rechtfertigt, hat in linken Zusammenhängen nichts verloren – selbstverständlich gilt das auch für die Rote Flora. Unsere Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Linken in den letzten Monaten soll auch dazu führen, antisemitische Äußerungen in Zukunft klarer als solche benennen und praktische Konsequenzen daraus ziehen zu können. Doch Versuche, jetzt aufgrund der aktuellen Zuspitzungen in der Auseinandersetzung kollektive Bestrafungen einzuführen, werden wir nicht mittragen. Hier zeigt sich, dass das Problem in der momentanen Auseinandersetzung nicht nur in einem zu ungenauen oder zu oberflächlichen Begriff von Antisemitismus liegt, sondern auch in einem zu undifferenzierten, pauschalisierenden, nicht selten allein auf Gerüchten basierenden Umgang mit konkreten Vorfällen innerhalb dieser Auseinandersetzung.
Das Ziel, das vorrangig angestrebt werden muss, ist ein Prozess der (Selbst-)Reflexion über Antisemitismus innerhalb der Linken, der auch praktische Konsequenzen hat. Und diesem Ziel werden wir unserer Einschätzung nach deutlich eher durch eine kollektive inhaltliche Auseinandersetzung näherkommen als durch ständig weitere Ausgrenzungs- und Spaltungsprozesse, die meistens vor allem der eigenen Identitätskonstruktion und Selbstvergewisserung dienen – auch wenn Grenzziehungen aus oben genannten Gründen eine politisch notwendige Konsequenz sein können. Die alte “Mensch oder Schwein”-Mentalität, die in der aktuellen Auseinandersetzung wieder neu aufgelegt wird, ist selbst Zeichen einer höchstens oberflächlichen Auseinandersetzung mit der Logik des antisemitischen Denkens.

Der neutestamentarische Satz: “Wer nicht für mich ist, ist wider mich” war von jeher dem Antisemitismus aus dem Herzen gesprochen.
Theodor W. Adorno, 1944

Plenum der Roten Flora, Juli 2004

Rote Flora
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